Mein kreatives Hobby: „Menschen malen, wie sie sein könnten – nicht wie sie sind“

Romantisieren.
Etwas – einen Zustand, eine Situation oder einen Menschen – in einem idealisierenden Licht erscheinen lassen. Verklären, schönfärben, schönreden oder einfach… schwärmen.

Oder wie ich es gerne nenne: die Gabe der Empathen, kreativen Köpfe und tapferen Optimisten.
Meine ganz besondere Superkraft (und oft auch mein größter Schwachpunkt).

Heute, bei meinem Sonntags-Detox, habe ich mich mal wieder mit genau diesem Thema beschäftigt. Ich bin nämlich (fast schon beruflich) spezialisiert auf das Gebiet des Romantisierens. Und wie bei jeder Superkraft, ist es auch bei mir eine Gabe, die gleichzeitig ein kleiner Fluch sein kann.

Die Sonnenseite des Romantisierens

Auf der positiven Seite liebe ich es, wie ich in jeder noch so unscheinbaren Situation die kleinen schönen Dinge entdecke. Wie ich mir durch genau diesen Blickwinkel in den schwierigsten Momenten noch Hoffnung, Motivation oder wenigstens einen klitzekleinen Funken Optimismus zaubern kann.
Es sind die kleinen Dinge im Leben, die oft die Waagschale in die eine oder andere Richtung bewegen. Und ich war schon immer die, die in allem noch das Gute fand. Irgendein Antrieb, der mich weitermachen lässt – immer.

Die Schattenseite – Wenn Romantisieren zur Illusion wird

Doch mit der Zeit habe ich auch die andere Seite dieser Fähigkeit kennengelernt. Besonders in den letzten Jahren habe ich mich immer öfter dabei erwischt, nicht nur Situationen, sondern auch Menschen zu romantisieren.
Heute habe ich mein aktuelles Umfeld betrachtet – Freundeskreis, Kollegen, Familie, aber auch Menschen, die einfach Teil meines Alltags sind – und mal bewusst hinterfragt, wo ich wieder zu sehr mit der Romantik-Brille unterwegs bin.

Ich habe mich an Situationen erinnert, in denen mich das Verhalten anderer getriggert hat. Wo ich mich über Missverständnisse oder Enttäuschungen geärgert habe. Und dabei wurde mir bewusst:
Oft liegt das gar nicht an den Menschen selbst, sondern daran, dass ich sie in meinem Kopf in ein Licht rücke, das so gar nicht (mehr) der Realität entspricht.

Wie viel von dem, was ich in anderen sehe, ist wirklich echt?
Ist der Typ, den ich so toll finde, wirklich dieser besondere Mensch? Oder wird er erst durch meine Vorstellungskraft zu dem, was ich mir wünsche?
Ist das Mädchen, das ich bewundere, wirklich so selbstbewusst und stark, oder male ich mir genau dieses Bild, weil ich es mir wünsche?

Ich habe immer schon viel zu hartnäckig das volle Potenzial in Menschen gesucht. Sehe oft nicht das, was sie gerade wirklich sind, sondern das, was sie sein könnten.
Und genau das kann frustrierend sein. Denn nicht jeder möchte oder kann sein eigenes Potenzial erkennen – und das darf man akzeptieren lernen. Es bringt nichts, wenn ich den Menschen ein Buch über ihren inneren Superhelden hinhalte, während sie sich nie trauen, über die Einleitung hinauszulesen.

Eine Grenze, die ich ziehen musste

Hier habe ich eine neue Grenze für mich definiert:
Ein Stopp-Schild, das mich daran erinnert, nicht jedem helfen zu müssen, nur weil ich sehe, was er/sie sein könnte.
Nur weil ich in Menschen etwas Besonderes sehe, heißt das nicht, dass sie es jemals sein werden – oder überhaupt sein wollen.

Das klingt im ersten Moment hart, ich weiß. Und vielleicht wird das den einen oder anderen triggern. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass wir solche Dinge auch mal aussprechen.
Nicht, um Menschen zu bewerten oder in Schubladen zu stecken. Sondern um bewusst zu machen: Jeder von uns hat dieses Potenzial in sich. Jeder hat diesen Funken, der zur Flamme werden kann.

Und ich wünsche es wirklich jedem, diesen Funken für sich zu entdecken. Ich liebe es, Menschen motiviert und begeistert zu sehen – mit leuchtenden Augen, wenn sie für etwas brennen. Aber ich habe auch gelernt: Es ist nicht meine Aufgabe, diese Flamme bei anderen zu entzünden, wenn sie selbst das Streichholz noch nicht mal in der Hand halten.

Romantisieren darf Platz haben – aber in gesundem Maß

Viele von uns klammern sich (vor allem in dunkleren Phasen) an dieses „Werkzeug“ des Romantisierens. Wir träumen uns Dinge schön, wir reden uns Situationen zurecht.
Grundsätzlich finde ich das auch gar nicht schlimm. Träumen ist wichtig. Sich Dinge schön reden, um Hoffnung zu finden – auch.

Aber mit dem Erwachsenwerden kommt eben auch die Verantwortung, zu wissen, wann man träumen darf und wann man sich mit der Realität auseinandersetzen muss.
Es geht – wie so oft – um das gesunde Maß. Um Balance.

Vielleicht bräuchten wir manchmal eine kleine Gebrauchsanweisung fürs Leben, mit all diesen Learnings, Grenzen und Reflexionen. Wer soll sich das bitte alles merken?
Aber: Als treuer Leser*in meines Blogs hast du zumindest einen Ort, an dem du immer wieder nachlesen kannst. Und wer weiß – vielleicht liest du diesen Text in einem Monat nochmal, aus einer ganz anderen Perspektive, und nimmst ganz neue Erkenntnisse mit.

Wir alle befinden uns in einem dauerhaften Prozess. Fehler machen gehört dazu. Manchmal müssen wir Dinge mehr als einmal falsch machen, bis wir daraus lernen. Und das ist okay.

Gedankenanstoß für eine neue Woche

Zum Abschluss möchte ich euch eine kleine Frage mitgeben – als Gedankenanstoß für die kommende Woche:
Lohnt sich das Ärgern über diese eine Person wirklich? Oder war das Resultat ohne den Schleier deiner Romantik-Brille von Anfang an klar?
Liegt es wirklich an dir, dass du immer auf die „falschen“ Leute triffst? Oder investierst du einfach (durch deinen Optimismus und dein Schön-Malen) zu viel Zeit darin, schwarz-weiße Menschen bunt zu färben?

Mit diesem vielleicht etwas harten, aber wichtigen Gedankengang verabschiede ich mich von dieser turbulenten Woche. Der August ist da, der Herbst klopft langsam an –
Und wenn das kein Zeichen für einen Neustart ist, den wir uns jederzeit selbst erlauben dürfen, dann weiß ich auch nicht.