Ein Brief, der zu spät kam – und doch genau richtig.

In Erinnerung an euch

Neulich habe ich gesagt, wie gut ich mich heute wohl mit euch beiden verstehen würde.
Und dieser Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen.

Denn irgendwie hatte ich nie die Chance, wirklich Enkelin zu sein – zumindest nicht so, wie man sich das vorstellt. Oder wie ich es von anderen erzählt bekomme.

Die kurze Zeit, die ich mit euch verbringen durfte, habe ich erst viel später wirklich zu schätzen gelernt.
Heute frage ich mich oft, was ihr eigentlich von mir dachtet. Habt ihr mich gemocht?
Ich mochte euch jedenfalls sehr – und denke oft an euch zurück.

An Omas komplett versalzene, fettige Sonntagsnudelsuppe, die sie selbst nie aß.
An den Menthol-Kaugummi, der mich bis heute an Opa erinnert.
An seine alte, halb kaputte Tasse, die er überallhin mitnahm – als gehörte sie einfach zu ihm.

Ich denke daran, wie Opa mir Schach beibrachte.
Wie er mich nie gewinnen ließ – aber so tat, als wäre es knapp.
Das Schachbrett lag immer am selben Ort. Ein Ort, den ich allein gar nicht erreichen konnte.

Oder an die Nachmittage mit Oma, wenn wir zeichneten.
Ihre feinen Skizzen, die sie beiseiteschob, um meine immer gleiche Zeichnung mit dem kleinen Haus und der Sonne in der Ecke zu loben, während ich heimlich ihre Zeichnung bewunderte.

Wir haben nie viel miteinander geredet – vielleicht, weil Worte zwischen uns gar nicht nötig waren.
Ihr habt mich immer schon mehr als Erwachsene gesehen, anstatt als Kind.
Und ich sah euch als kleine Ruhepause im ersten Stock des gebrochenen Hauses – einen Ort, an den ich fliehen konnte, wenn unten alles zu laut war.

Taten haben zwischen uns immer lauter gesprochen als Worte.
Und im Nachhinein bin ich dankbar für genau das.
Ich wusste schon damals, dass ihr genau wusstet, was unten im Erdgeschoss geschah – und dass ihr nichts dagegen tun konntet.

Trotzdem war ich euch nie böse.
Nicht damals, und auch heute nicht.
Wir waren alle auf unsere Weise gefangen in diesem Haus – einem Ort, an dem keiner von uns wirklich sein wollte.
Vielleicht war es genau das, was uns verbunden hat.

Noch ein Grund, warum ich niemals bereuen könnte, genau diesen Mann als Vater zu haben:
Mit ihm kamt auch ihr – meine Großeltern, die mich in so kurzer Zeit so tief geprägt haben.

Ich habe mich nie richtig von euch verabschiedet.
Nie wirklich getrauert oder geweint.
Einen Tag wart ihr noch da – und plötzlich nicht mehr.
Ich wusste immer: Wenn einer von euch geht, dauert es nicht lange, bis der andere folgt.

Als ihr beide weg wart, war das ein stiller Weckruf.
Ein Zeichen, dass es auch für mich Zeit war zu gehen –
weg von dem Haus, von dem Mann, von all dem, was mich festhielt.
Ich zog meine Schuhe an und ging los – Richtung Leben. Richtung Freiheit.

Früher hatte ich Schuldgefühle, weil ich so schnell „abgeschlossen“ hatte.
Aber heute weiß ich, dass dieser stille Abschied lauter war, als ich es damals verstand.

Heute denke ich gerne an euch.
Ich schaue oft zum Himmel und rede, als würdet ihr mir gegenübersitzen – und erzähle euch von meinen neuesten Ideen, Hobbys, kleinen Erfolgen.

Wenn ich meine Suppe mal versalze, muss ich lächeln – weil ich Oma in solchen Momenten spüre.
Beim Holzschnitzen oder Basteln sehe ich Opa über meine Schulter schauen.

Wenn ich heute mit euch einen Kaffee trinken könnte, würde ich einfach die gemeinsame Zeit genießen.
Ohne große Worte.
Ich würde meine Zeichnungen mitbringen, die von Omas Liebe zum Detail inspiriert sind, und mein eigenes Schachbrett, das ich ohne Opa nie gefunden hätte.

Ich würde euch sagen, dass ich jetzt wirklich glücklich bin.
Dass ich Frieden gefunden habe.
Dass ich meine „Ausruh-Phasen“ heute bei mir selbst finde – und dass Mama und ich es endlich rausgeschafft haben.

Ich kann mich nicht erinnern, Opa jemals umarmt zu haben.
Also würde ich das nachholen, bevor ihr wieder gehen müsstet.
Und ich würde fragen, ob ihr unsere Hunde wiedergefunden habt – und ob ihr sie bitte einmal für mich drücken könnt.

Und wenn ich irgendwann wieder hoffnungslos verzweifle, schaue ich nach oben – mit dem Wissen, dass ihr immer da seid.
Egal, wo ich gerade bin.

Ihr habt mir beigebracht, wie schnell Momente vergehen – und wie wertvoll sie sind.

Oma, Opa – ihr hättet die erwachsene Ines gemocht.
Und genau das macht mich stolz.

Danke, dass ich eure Enkelin sein durfte.
Danke, dass ich bei euch einfach ich sein konnte.
Auch wenn unsere gemeinsame Zeit kurz war – ich trage euch für immer in mir.

„Nenn mich ruhig Oma – ich bin lieber glücklich als laut“

Du bist ja schon wie eine Oma.
Du verhältst dich wie eine alte Frau.

Gesagt, als wäre das ein Vorwurf. Als sollte es mich treffen, verletzen – oder zumindest abwerten. „Oma“ als Synonym für langweilig. Für „nicht mehr ganz dabei“. Als müsste ich mich plötzlich schlecht fühlen, als wäre es mir gar nicht bewusst, wie ich lebe und wer ich bin.

Wie eine Omi also – weil ich Ruhe in meinem Leben bevorzuge?
Weil ich nicht mehr feiern gehe, nicht mehr auf langen Nächten durch dunkle Clubs unterwegs bin? Lärm, Alkohol, Gedränge – das alles kenne ich gut. Ich war lange genug mittendrin. Von einer Party zur nächsten, fast auf der Jagd nach Adrenalin – oder vielleicht eher: auf der Flucht vor der Stille.

Ein hoher Puls und ein Tinnitus im Ohr.

Versteht mich nicht falsch – das hier soll keine umgedrehte Abwertung werden. Ich war selbst jahrelang die „Partymaus“, immer dabei, immer unterwegs, immer bereit. Nie „Nein“ sagen, nie aus der Reihe tanzen – ironischerweise. Ich wollte schon damals meistens einfach nur zu Hause bleiben. Aber Gruppenzwang ist laut. Und der Wunsch, dazuzugehören, ist manchmal noch lauter.

Ich dachte: Sag besser nichts. Sei lieb. Sei pflegeleicht. Mach es allen recht.
Denn wenn ich „nein“ sage und sie zeigen mir, dass sie gar nicht meine Freunde sind – was dann? Dann bin ich ganz allein, mit mir selbst und meinem „langweiligen Dasein“.

Also schluckt man es runter. Wieder und wieder.
Bis man sich selbst kaum noch wiedererkennt.

Menschenmengen, die mich nervös machen. Lärm, der mich sogar beim Staubsaugen stresst. Und als Höhepunkt: Betrunkene Menschen um mich herum, kein einziger sicherer Hafen in Sicht. Keine Komfortperson. Keine Nähe. Kein Schutz.

Im besten Fall wird man dann auch noch vergessen – das stärkt angeblich den Charakter.

Ich habe oft erzählt, wie es mir geht. Von Angst, von schlaflosen Nächten. Von Panik, die sich im Körper festsetzt wie Blei. Aber wer will das schon hören? Niemand hat gefragt.
Vielleicht habe ich zu viel erwartet. Vielleicht vergessen, dass Freundschaft kein Versprechen ist.

Oder?
Vielleicht war das nie echte Freundschaft.

Ich habe für andere gelebt. Bin nüchtern geblieben, weil jemand fahren musste – aber wehe, ich war müde. Oder wollte früher heim. Keine Chance. Ich war nicht ich, ich war Funktion.

Und wenn ich doch mal mitgetrunken habe? Dann eben ganz oder gar nicht. Nicht nachdenken. Nicht zweifeln. Nicht fühlen.
Letztes Mal was ins Glas bekommen? Dieses Mal besser aufpassen.
Kreislaufprobleme? Gibt’s nicht. Nur zu wenig Alkohol.
Belästigt worden? Ach komm, stell dich nicht so an. Macht doch jeder.

Und mittendrin in diesem absurden Fiebertraum merkte ich wieder:
Irgendwas ist falsch an mir.
Ich habe bestimmt wieder alles falsch gemacht.
Und zack – stehe ich allein da.
Ob in einer fremden Stadt oder ein paar Straßen weiter – allein ist allein.

Aber: Bloß nicht an mich denken. Bloß keine schlechte Freundin sein.
Immer schön aufpassen, dass es allen anderen gut geht. Immer schön funktionstüchtig bleiben.

Ich könnte stundenlang so weiterschreiben. Und vielleicht tue ich das auch.
Aber zurück zum Thema: Das Oma-Sein.

Heute muss ich mich selbst immer wieder daran erinnern:
Ich bin wichtig.
Meine Gefühle zählen.
Ich darf eine Meinung haben. Ich darf spüren, was ich will – und was nicht. Und vor allem: mit wem.

Wenn ich dann allein zu Hause bin, dann ist das okay.
Dann ist das sogar schön. Ich habe Zeit für meine Hobbys. Oder einfach fürs Nichtstun.

Ich habe gelernt, dass ich keine Angst mehr haben muss vor dem Alleinsein.
Ich mag es sogar.
Nicht jeder wird mich verstehen. Nicht jeder wird mich mögen.
Und das ist okay.

Die Menschen, die wirklich zu mir passen, kommen ganz von allein in mein Leben.
Alle, die ich „überreden“ müsste, gehören sowieso nicht zu mir.

Und das tut weh – klar.
Es tut immer weh, zu merken, dass sich Menschen nicht für mich interessieren, sondern nur jemanden brauchen, der verfügbar ist.
Aber heute höre ich früher auf die kleinen Alarmglocken.

Man kann mich nicht mehr klein machen. Nicht mehr einschüchtern. Nicht mehr manipulieren.

Ich liebe es, wie eine Omi zu leben.
Früh aufstehen, mit dem Hund gehen. Kaffee im Garten. Pflanzen beobachten, gießen. Lernen – je nachdem, was gerade ansteht. Trainieren, arbeiten, Hobbys nachgehen. Heute das eine, morgen drei auf einmal. Kochen. Backen. Am Abend auf der Couch liegen und mein Zuhause genießen.

Oder hier sitzen, vor dem PC, und einen Blogpost über mein Leben schreiben – in meinem Tempo. Ohne Schuldgefühl.

Ich gehe raus, wann ich will. Und mit wem ich will.
Und selbst wenn das meistens nur ich bin – dann ist das so.
Die kleine Ines von damals wäre stolz auf mich.
Vielleicht ein bisschen verängstigt – aber stolz.

Und genau das zählt.
Ich bin glücklich, so wie ich bin.
Was für mich bestimmt ist, wird seinen Weg schon zu mir finden.

Ob das jetzt nach Oma klingt oder eher nach Kräuterhexe – sei dahingestellt.
Hauptsache, ich verliere mich nie wieder selbst, nur um anderen zu gefallen.