🪶Ich schreibe weiter, wo das Kind aufgehört hat

Normalerweise ist es ja so – zumindest laut dem gesellschaftlichen Klischee –, dass das älteste Kind immer am meisten übersehen wird. Auf sie wird am wenigsten geachtet, weil sie ja die Ältesten sind. Die Aufmerksamkeit fällt meistens auf die jüngeren Geschwister: Sie haben mehr Freiheiten und bekommen oft auch mehr Liebe und Zuneigung.
Normalerweise eben.

Und dann gibt es die Jüngsten, die eigentlich die Ältesten sein sollten – zumindest, wenn man nach den gesellschaftlichen Prinzipien geht. Die Jüngsten, um die sich niemand Sorgen macht, weil sie ja ohnehin gut allein klarkommen. Die Jüngsten, auf die man oft vergisst, weil sie doch schon so reif und selbstständig wirken.
Genau diese Jüngsten, die sich immer vor alle anderen stellen – als Schutzschild, als Blitzableiter.
Die Jüngsten, die eigentlich nie wirklich Kind sein durften, weil das Leben andere Pläne für sie hatte.

Da wären wir also wieder bei den falschen gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüchen.

Das Ganze soll schlichtweg eine Einleitung für mich selbst sein – ein Startschuss für die Reise in meine Kindheit. Jeden Tag eine neue Tagebuchseite, die ich gemeinsam mit dem Kind in mir aufarbeiten möchte. Stück für Stück raus aus den dunklen Ecken der Vergangenheit, hin zu der bunten, hellen Welt, die ich mir mittlerweile geschaffen habe.

Bisher war es oft so, dass, wenn ich mich endlich hinsetzte, um die alten Traumata aufzuarbeiten, sich fast wie ein Schleier um mich legte. Immer wieder landete ich im Nebel, den die kleine Hexe Ines aus Angst um mich zog – und bisher habe ich das einfach so gelassen, aufgeschoben.
Doch ich spüre inzwischen deutlich, dass hier Aufholbedarf besteht. Es ist an der Zeit.

Wie ich das merke? Und woran ich erkenne, wann wirklich höchste Eisenbahn ist? Das liegt wohl einfach in meiner Natur – so doof das auch klingen mag. Ich war schon immer ein achtsamer, reflektierter und sensibler Mensch. Ich habe Veränderungen und Schwingungen – in mir und in anderen – früh wahrgenommen. Ich konnte schon immer spüren, wo es hakt, wo es innerlich zieht oder drückt.
Mein Bauchgefühl ist so stark, dass ich körperlich merke, wenn etwas nicht passt.
Aber dazu irgendwann mehr – sonst schweife ich wieder vom eigentlichen Thema ab.

Mein Unterbewusstsein zeigt mir ganz klar: Es ist Zeit, etwas aufzuarbeiten.
Also lege ich los. Jeden Tag eine Seite im Tagebuch der kleinen Ines.

Denn um dem Ganzen wirklich ehrlich und ohne Ausweichmanöver auf den Grund zu gehen, muss ich es aus mir herauslassen und einen temporären Platz dafür schaffen – für diesen Teil meiner Geschichte.
Ohne Schleier oder Nebel, die nur die Angst meines inneren Kindes spiegeln und als Schutzmechanismus dienen.

Ich halte mich jetzt selbst in der Hand, wenn ich dieses Abenteuer starte. Es ist Zeit, mir selbst zu zeigen, dass ich keine Angst mehr haben muss.
Alles, was nun hochkommt, liegt in der Vergangenheit. Und auch wenn dabei vieles Schmerzliche wieder ans Licht kommt – es kann mir heute keinen Schaden mehr zufügen.

Es ist Zeit, die alten Geister loszulassen und den Spuk endlich ruhen zu lassen.
Dieser Teil meiner Geschichte darf jetzt ein letztes Mal gruselig sein – bevor er endlich frei wird.

Ich glaube, ein Teil von mir tut sich schwer damit, klar und deutlich zu formulieren, wie mein Alltag damals wirklich aussah. Vielleicht auch, weil damit der Kern spürbar wird, der sich bis heute in mir versteckt – und weil ich damit die liebste und wichtigste Person in meinem Leben ein Stück weit verletzen könnte, ob ich das will oder nicht.

Denn wer mich kennt, kennt meine Mama. Und wer uns beide kennt, würde wohl nie glauben, dass ich so viel Unheil in mir trage. Dass meine Kindheit eigentlich gar nicht so schön war – und meine Mama schlicht der schönste Teil darin.

Genau darin liegt meine größte Sorge. Mein schlechtes Gewissen. Und damit auch die größte Blockade bei der Aufarbeitung dieser Zeit: ehrlich zu erzählen, wie es wirklich war, ohne dabei ständig meine Mama zu schützen.

Und nein – ich meine damit nicht, dass sie eine Mittäterin war oder dass nun ein „Was?! Das hat sie getan?!“-Moment aufkommt. Ganz im Gegenteil.
Ich habe Angst, ehrlich zu sein, weil ich nicht möchte, dass der Mensch, der mir immer unendliche Liebe und Licht geschenkt hat, das Gefühl bekommt, versagt zu haben. Oder ein schlechtes Gewissen hat, weil sie es nicht früher bemerkt hat. Oder weil sie versucht hat, mich zu schützen – und es trotzdem nicht gereicht hat.
All die Vorwürfe, die ich ihr niemals machen würde.

Und trotzdem ist es wichtig – für mich und meine Zukunft –, jetzt über diese Angst zu springen und mich dem Ganzen zu stellen. Immerhin bin ich heute genau diejenige, die ich damals als Kind gebraucht hätte: die Superheldin, die den Tag rettet, und die gute Hexe, die dem Spuk ein Ende bereitet.

Wie viel von dieser Reise sich in meine zukünftigen Texte verirrt – oder ob ich damit vielleicht schon das Fundament meines Buches lege – wird sich zeigen.
Ich wollte, vor allem für mich selbst, nur kurz zeigen, dass ich nun startklar bin.
Startklar für das nächste Kapitel.