Nebenbei geheilt

Wo keine Rolle war – und dennoch Heilung

Vaterfigur.
Wenn ich ehrlich bin – und wie man sich mittlerweile als Leser:in wohl denken kann –
hat es für mich nie wirklich so etwas wie eine Vaterfigur in meinem Leben gegeben.
Und lange Zeit habe ich geglaubt, dass mir das nicht geschadet hat.
Dass es keine Spuren hinterlassen hat, keine Wunden, keine stillen Risse.

Doch da ich nie etwas anderes als den bösen Mann im Haus gekannt habe,
war es für mich nicht logisch, dass diese Rolle auch etwas Gutes tragen kann.
Dass ein Vater nicht automatisch Angst bedeutet.
Das habe ich sehr lange nicht verstanden.

Ich ging davon aus, dass jede noch so „gute“ Vaterfigur irgendwo etwas Dunkles in sich tragen muss.
Vielleicht hat mir dieser Gedanke geholfen, die Enttäuschung auszuhalten.
Zu glauben, dass ich einfach Pech hatte.
Dass mir eben ein besonders negativer Mensch zugeteilt worden war.

Heute weiß ich natürlich, dass ich damit kein Einzelfall war.
Und dass es vielen anderen genauso ergangen ist.

Wenn ich heute über Vaterfiguren in meinem Leben nachdenke,
taucht immer wieder derselbe Mensch vor mir auf:
der Exfreund – mittlerweile gute Freund – meiner Mama.

Er kommt dieser Rolle heute am nächsten.
Auch wenn wir gerade erst begonnen haben, uns auf dieser Ebene zu begegnen.
Auch wenn noch unklar ist, wo diese Geschichte endet.

Als Kind und Jugendliche habe ich ihn nie als Vaterersatz gesehen.
Eher als einen freundlichen Fremden.
Und doch war er von Anfang an präsenter als mein biologischer Vater es je war.

Rückblickend bin ich unendlich dankbar dafür,
dass von seiner Seite nie der Versuch kam, diese Rolle einzunehmen.
Kein Drängen. Kein Anspruch.
Kein unausgesprochener Druck, ihn als neues Familienmitglied akzeptieren zu müssen.

Stattdessen war er einfach da. Immer öfter.
Beim Essen. Bei Feiern. Oder irgendwo dazwischen.
Und auch da nicht jedes Mal –
denn selbst das hätte mich damals schon überfordert.

Er war kein Stiefvater. Kein Vater-Ersatz.
Sondern einfach ein vertrautes Gesicht.
Eines, das keine Angst verbreitete.
Keines, das Panik auslöste.
Sondern eines, das Gesellschaft schenkte.

Natürlich waren wir damals beide andere Menschen als heute.
Auch du hattest deine eigenen Kämpfe hinter dir, deine Aufgaben, deine Stolpersteine.
Wir sind gewachsen. Haben uns weiterentwickelt.
Sind angekommen – jeder auf seine Weise – und haben alte Muster hinter uns gelassen.

Und auch wenn ich nichts an unserer gemeinsamen Reise ändern würde,
weil sie uns genau hierher geführt hat, ertappe ich mich manchmal bei der Frage,
wie es gewesen wäre, so eine Art Vater zu haben statt meinem eigentlichen.

Ob ich mir ein paar Kratzer erspart hätte.
Ob ich anders geworden wäre.

Würde ich trotzdem schreiben?
Zeichnen?
Wäre mein Karriereweg ein anderer?
Mein Liebesleben?
Mein Freundeskreis größer?

Wäre ich überhaupt ich geworden – oder jemand ganz anderes?

Doch so sehr diese Gedankenspiele auch faszinieren,
kann ich heute zurückblicken, ohne der Realität nachzutrauern.
Und ich bin dankbar dafür, dich genau so kennengelernt zu haben, wie es wirklich passiert ist.

Denn auch ohne Perfektion durfte ich in deiner Nähe einfach ich sein.
Ich musste mich nicht erklären, nicht anpassen, nicht weniger oder mehr sein, als ich war.
Auch wenn du mich oft nicht ganz verstanden hast – du musstest es auch nicht.
Du hast mich einfach angenommen.

Und vor allem bin ich dankbar dafür,
dass du einer der wenigen Menschen warst, die meiner Mama treu geblieben sind.
In jeder Hinsicht.

Dass du sie unterstützt hast. Gestärkt. Geliebt.
Dass du ihr nach all den dunklen Jahren wieder Raum gegeben hast,
Partnerin zu sein. Mensch zu sein. Glücklich.

Du hast uns beide ein Stück weit gerettet,
ohne jemals etwas dafür zurückzuverlangen.

Und genau das ist vielleicht mehr,
als eine Rolle jemals hätte sein können.

Und auch wenn wir vielleicht nicht näher kommen, als wir es gerade sind,
bleibst du in meinem Kopf dem Bild eines Vaters näher als mein eigentlicher es je war.

Auch wenn wir nicht viel Kontakt haben und uns – wenn wir ehrlich sind –
„nur“ meine Mama verbindet und immer wieder zueinander bringt,
trage ich dieses warme, wohlig ruhige Gefühl in mir.

Eine Dankbarkeit dafür, dass du das Bild des Vaters, des Mannes in mir, ein kleines Stück repariert hast.
Unbewusst. Ganz leise. Nebenbei.

Und vielleicht ist genau das mehr, als ich je erwartet hätte.

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