Vom Hungern, vom Lernen, vom Heilen.
🌱 Triggerhinweis:
In diesem Text geht es um Essstörungen, Körperbild, familiäre Themen und mentale Gesundheit.
Lies bitte achtsam – nur so, wie es sich für dich gut anfühlt.
Wenn du merkst, dass etwas in dir anklopft: atme, pausiere, komm später zurück.
Du bist wichtiger als jeder Text.
Da ich mir inzwischen mein zweites Standbein immer stabiler aufbaue und mich auf diesem Weg immer wohler und sicherer fühle, möchte ich heute zurück an den Ursprung gehen. Denn bevor ich erzählen kann, wie ich hierher gekommen bin, muss ich erzählen, wo alles begann.
Das hier ist meine Geschichte. Meine Reise mit Essstörungen – und mit mir selbst.
Ich möchte die transparenteste und authentischste Version von mir zeigen. Nicht, weil es leicht ist, darüber zu sprechen, sondern weil es ehrlich ist. Und weil es wichtig ist, zu verstehen, warum ich heute tue, was ich tue und warum ich meine Arbeit so gestalte, wie ich sie gestalte. Ernährung war immer ein Thema in meinem Leben, ohne dass ich es wirklich bewusst wahrgenommen hätte. Ich hätte früher nie gedacht, dass ich einmal beruflich damit zu tun haben würde – aber rückblickend ergibt es fast erschreckend viel Sinn.
Meine Beziehung zum Essen war nie einfach und nie geradlinig. Sie hatte keine klaren Startpunkte, eher Schatten, die sich langsam in mein Leben webten. Als Kind war ich „hacklig“, wie man bei uns sagt – vorsichtig mit Neuem, skeptisch gegenüber unbekannten Lebensmitteln. Zum Glück war meine Mutter jemand, der mich nie zwang, den Teller zu leeren oder etwas zu essen, das ich nicht wollte. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Denn intuitives Essen beginnt dort, wo Druck endet. Und zumindest am Anfang gab es diese Freiheit.
Zu Hause gab es wenig gemeinsame Mahlzeiten am Tisch. Alltag, Stress, jeder für sich. Niemand kontrollierte, ob oder was ich aß. Ich hätte mich theoretisch von Süßigkeiten ernähren können und es wäre niemandem aufgefallen. Und doch aß ich damals „normal“, soweit man das sagen kann, wenn Normalität bei jedem anders aussieht.
Der erste Moment, der sich tief eingebrannt hat, sitzt allerdings am Küchentisch in unserem alten Haus. Und nein – es ging nicht um Essen an sich, sondern um einen Blick. Mein Vater ist Alkoholiker. Ich erinnere mich daran, beim Frühstück zu sitzen und von seinen leeren, kalten Augen fixiert zu werden. Ein Blick, der mich gleichzeitig erstarren ließ und verschluckte. Ein Gefühl von Bedrohung, das ich damals nicht verstand, aber das sich still in mir festsetzte.
Damals wusste ich nicht, was genau ich in diesem Blick sah – nur, dass dahinter etwas Dunkles lauerte. Etwas, das spürte, dass in mir etwas war, das Licht trug. Und manchmal glaube ich, es war genau dieses Licht, das dieser Blick ersticken wollte. Aber diese Geschichte ruht noch – und bekommt ihren Raum an einem anderen Tag.
Meine Mutter arbeitete viel, ich war viel allein, Essen verschwand aus meinem Alltag. Ich spürte keinen Hunger mehr. Vorkochtes Essen landete im Müll. Und theoretisch hätte sich das irgendwann in emotionales Essen verwandeln können, aber das tat es nicht. Ein Grund dafür war meine Schwester. Ihre Kommentare über Körper, „Problemzonen“ und „Schwabbeln“ begleiteten mich täglich. Heute weiß ich, dass das viel über ihre eigene Unsicherheit sagte und wenig über mich. Ich habe ihr verziehen, aber geprägt hat es mich trotzdem.
Worte können zu inneren Spiegeln werden – und manchmal halten sie ein Bild fest, das nie wirklich existiert hat. Bis heute gibt es Tage, an denen ich im Spiegel nicht meinen Körper sehe, sondern den, den sie damals kritisierte. Zu breite Oberschenkel, selbst wenn sie schmal sind. Ein verzerrtes Echo, das sich leise hält, aber bleibt. Bodydysmorphia hat ihre Wurzeln dort geschlagen – tief, still, und hartnäckig.
Ich wollte essen, aber ich hatte Schuldgefühle. Ich wollte zunehmen, aber ich hatte Angst. Und so rutschte ich in den nächsten Abschnitt: Binge-Episoden, Schuld, Erbrechen. Mahlzeit für Mahlzeit. Finger im Hals. Ein Wechsel aus Hunger, Scham und Verzweiflung. Bis zu jener Klassenfahrt, an der ich auf der Toilette ertappt wurde. Bis Gelächter und abfällige Worte durch die Tür drangen. „Wie ekelhaft.“ „Was für ein Freak.“ Nicht ein einziger Mensch sah, dass ich Hilfe brauchte.
Dann kamen Social Media, Idealbilder, vermeintliche Gesundheits-Trends, „Eat clean“, „Balance“, aber nur unter Bedingungen. Ein krankes System, verkleidet als Lifestyle. Und irgendwann kam jemand in mein Leben, der zunächst Freiheit brachte: Genuss, neue Lebensmittel, ein Gefühl von Normalität. Dann kamen Alkohol und Drogen dazu. Und irgendwann fühlte ich nichts mehr – nicht einmal Hunger.
Vier Jahre später war ich ausgebrannt. Leerer als leer. 40 Kilo. Gürtelrose, Entzündungen, Schmerztabletten. Mein Körper schrie. Und zum ersten Mal hörte ich hin. Plötzlich war ich allein. Keine Freunde mehr, kein Halt – nur meine Mutter und ich. Der Wendepunkt.
Ich musste essen neu lernen. Kochen neu lernen. Leben neu lernen.
Und zum ersten Mal hatte ich nicht nur mich. Ich hatte ein kleines, ehrliches Team hinter mir. Meine Mama – die ich jahrelang weggestoßen hatte, und deren Liebe ich erst viel später wieder annehmen konnte. Bis heute tut es weh, wie lange ich sie im Stich gelassen habe.
Und dann kam Luke. Mein Seelenhund. Kein Plan, kein Zufall – sondern ein Wesen, das in genau diesem Moment zu mir fand und seitdem ohne Bedingung, ohne Urteil, einfach da ist. Wer je von einem Tier gerettet wurde, weiß, was ich meine.
Irgendwann, nach Monaten der Isolation, trat auch wieder ein Mensch in mein Leben. Vorsichtig, geduldig. Eine Freundin, die mich zurück ins soziale Leben holte und mir zeigte, dass man Menschen wieder vertrauen kann. Dass Verbindung wieder möglich ist. Dass ich nicht für immer allein sein würde.
Heute akzeptiere ich meinen Körper als mein Zuhause.
Nicht, weil alles perfekt ist – sondern weil er mich durch alles getragen hat.
Ich werde nie wieder versuchen, ihn umzubauen oder zu verlassen, nur um anderen zu gefallen.
Aber Akzeptanz heißt nicht, dass es keine Schatten mehr gibt. Essstörungen verschwinden nicht einfach. Sie verändern Form, sie werden leiser – manchmal flüstern sie. Es gibt Tage, an denen Essen schwer ist, Tage, an denen ich meine Sättigung nicht spüre, Tage, an denen der Spiegel mich an alte Versionen von mir erinnert.
Und genau deshalb gehe ich diesen Weg. Genau deshalb begleite ich Menschen heute in ihrer Beziehung zu Essen und Körper. Nicht von einem perfekten Podest aus – sondern von Mensch zu Mensch. Verletzlich, unperfekt, ohne Urteil. Mit Licht. Mit Geduld. Mit Liebe.
Denn das Ziel ist nicht Perfektion.
Das Ziel ist Frieden.
Das Ziel ist Zuhause-sein im eigenen Körper – auch an den Tagen, an denen es schwer ist.
Wir alle verdienen das.
Und wir alle verdienen es, satt zu sein.
Im Körper. Im Herzen. Im Leben.
Manchmal fühlt sich der eigene Körper an wie ein Ort, an dem man erst wieder ankommen lernen muss.
Wenn du das kennst — dieses leise Ringen, dieses Suchen — dann nur als Erinnerung:
Du musst nicht heute alles verstehen.
Du musst nicht fertig sein, um auf dem richtigen Weg zu sein.
Heilung ist oft kein großer Moment, sondern viele kleine.
Und jeder einzelne zählt.
🌿 Du bist hier – und das ist genug.